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9. März 2021 – „Bei der Analyse neurophysiologischer Daten von PatientInnen mit neurologischen Erkrankungen stehen ForscherInnen heute so viele Daten zur Verfügung wie nie zuvor. In Verbindung mit hohen Computerleistungen, künstlicher Intelligenz, maschinellem Lernen und Big-Data-Analysen entstehen völlig neue Optionen für diagnostische und therapeutische Ansätze in der Klinischen Neurophysiologie: deutlich präzisere Diagnostik, Echtzeit-Modulation der Gehirnaktivität, Anfallsvorhersage in der Epileptologie sowie Biomarker für die Therapiesteuerung.“ Auf diese wichtigen Forschungstrends wies heute Prof. Dr. med. Felix Rosenow im Vorfeld des 65. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) vom 10.–12. März 2021 hin, der in diesem Jahr virtuell veranstaltet wird. Professor Rosenow, Frankfurt, ist Präsident der DGKN sowie Kongresspräsident 2021.

Mit den Datenmengen nimmt die Präzision zu

Vor 30 Jahren dauerte ein Elektroenzephalogramm (EEG) 25 Minuten und wurde auf Papier geschrieben. Anschließend hat der Arzt die Muster gesichtet und interpretiert. Heute gibt es 14-Tage-Dauer-EEGs mit 100 Kanälen und 1000 Datenpunkten pro Sekunde. Am Ende liegen 121 Milliarden Datenpunkte pro PatientIn vor, die selbstverständlich nur noch mithilfe von Computern verarbeitet werden können. Der Vorteil: Je mehr Daten und je mehr Quellen einbezogen werden, desto höher sind die Genauigkeit und die Aussagekraft einer solchen Big-Data-Analyse.

Wettervorhersage im Gehirn

Die Meteorologie kann trotz des komplexen Systems Wetter mit Daten und Modellen Vorhersagen bis eine Woche im Voraus sehr zuverlässig und geografisch hochaufgelöst treffen. Analog übertragen Unternehmen und Forschergruppen dieses Konzept auf das noch komplexere System Gehirn und forschen zum Beispiel an prädiktiven Biomarkern für Epilepsien. Eine aktuelle Fragestellung lautet: Können wir aus einem (Dauer-)EEG vorhersagen, ob und wann ein epileptischer Anfall eintritt? Diese Anwendung wird derzeit bei PatientInnen mit einem Hirninfarkt oder einem Schädel-Hirn-Trauma untersucht, von denen bekanntermaßen rund 5 % eine Epilepsie entwickeln. Die EEG-Langzeitableitungen erfolgen zum Beispiel mit Elektroden, die wie ein Hörgerät im Gehörgang liegen oder sogar implantiert werden können. Verarbeitet werden die Daten in neuronalen Netzwerken in Kombination mit maschinellem Lernen. Für die PatientInnen wird es ein enormer Gewinn an Lebensqualität sein, wenn sie in Zukunft einige Minuten vor ihren Anfällen zuverlässig gewarnt werden könnten.

 

Seitliche Schädelaufnahme eines Patienten mit subduralem Hämatom und auf dem Hirn aufgelegter 4-Kontakt-EEG-Elektrode (vier Punkte), mit der Anfälle detektiert werden können (1). © Prof. Dr. Adam Strzelczyk

Seitliche Schädelaufnahme eines Patienten mit subduralem Hämatom
und auf dem Hirn aufgelegter 4-Kontakt-EEG-Elektrode (vier Punkte),
mit der Anfälle detektiert werden können (1). © Prof. Dr. Adam Strzelczyk

Implantierte Streifenelektroden für Dauer-EEGs

Auch PatientInnen mit akutem subduralem Hämatom (Blutung unter der Hirnhaut) erleiden häufig Krampfanfälle. Im Rahmen von Studien wird bei ihnen ein Dauer-EEG abgeleitet. Dafür erhalten sie EEG-Elektroden unter die Kopfhaut implantiert (siehe Bild). „Auch hier verfolgen wir die Fragestellung: Kann diese Datenanalyse mit künstlicher Intelligenz vorhersagen, ob und wann Anfälle auftreten? Falls ja, könnten wir rechtzeitig intervenieren und damit die Personen vor weiteren Verschlechterungen des Zustands schützen und präventiv behandeln?“, erklärt Professor Rosenow. Solche therapeutischen Ansätze basieren in der Regel auf Voruntersuchungen in Tiermodellen.

Das Training von Tiefen Neuronalen Netzen (DNN)

Die künstliche Intelligenz heißt in diesem Fall Deep Neural Network (DNN). Diyuan Lu und Jochen Triesch vom Frankfurt Institute for Advanced Studies etwa trainieren das DNN mit Daten von Versuchstieren: Sie nutzen dabei das EEG von sechs Mäusen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Epilepsie entwickeln. Damit hat das DNN ausreichend gelernt: Bei der siebten Maus erkennt es selbstständig den Zeitpunkt kurz vor Auftreten des ersten Anfalls, die späte Epileptogenese-Phase, mit hoher Sicherheit (2). Der nächste Schritt ist es nun, die gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen zu übertragen.

Einsatz bei weiteren Erkrankungen

Dieser Trend zu elektrophysiologischen Biomarkern betrifft nicht allein die Vorhersage von Epilepsien. Auch bei neurodegenerativen Erkrankungen (z. B. Morbus Alzheimer oder Morbus Parkinson) entwickelt sich dieser Bereich der Klinischen Neurophysiologie. Beispielsweise erlaubt die schnelle Analyse von großen Datenmengen praktisch in Echtzeit, neuronale Zustände des Gehirns zu analysieren und über elektrische Impulse sofort gegenzusteuern. Dieses Konzept wird derzeit in Deutschland bei der Tiefen Hirnstimulation bei der Parkinson-Krankheit erforscht. Der DFG-Sonderforschungsbereich RETUNE, eine Kooperation der neurologischen Universitätskliniken in Berlin und Würzburg, möchte noch in diesem Jahr mit der ersten klinischen Studie zur therapeutischen Modulation von Hirnaktivität beginnen.

Weltweite Big-Data-Netzwerke

„Weiter gespannte Netzwerke, die Datensätze von mehreren Patienten, mehreren Studien, mehreren Instituten aus mehreren Ländern zusammenführen, gepaart mit den entsprechenden Datennetzen und Computerkapazitäten, werden die Forschung in diesen Bereichen deutlich beschleunigen“, so Felix Rosenow. Diese Netze werden derzeit international geknüpft, z. B. im Rahmen des Human Brain Projects, an dem Mitglieder der DGKN beteiligt sind. 

Referenzen
  1. Won SY et al. Diagnostic Subdural EEG electrodes And Subdural Hematoma (DISEASE): a study protocol for a prospective nonrandomized controlled trial. Neurol Res Pract. 2020;2:50. doi: 10.1186/s42466-020-00096-8
  2. Lu D et al. Towards Early Diagnosis of Epilepsy from EEG Data. Proceedings of the 5th Machine Learning for Healthcare Conference, in PMLR 2020;126:80-96
  3. Übersicht: Richards BA et al. A deep learning framework for neuroscience. Nat Neurosci. 2019 Nov;22(11):1761-1770. doi: 10.1038/s41593-019-0520-2

Kontakt zu Prof. Dr. med. Felix Rosenow

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Dieses Bild und weitere Motive aus der Klinischen Neurophysiologie unter https://dgkn.de/dgkn/service-fuer-die-medien

 65. Kongress der DGKN vom 10.-12. März 2021 in digitaler Form, Programm und Registrierung www.dgkn-kongress.de (vergünstigte Kongressgebühr für Assistenzärzte/Ärztliches Fachpersonal in Weiterbildung)

Pressestelle der DGKN

Dipl.-Biol. Sandra Wilcken, c/o albertZWEI media GmbH, Tel.: +49 (0) 89 461486-11, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

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